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Nach der Flut

Irgendwie ist diesen Sommer im Ahrtal viel zu viel passiert. Der unaufhörliche Dauerregen, die Überschwemmungen, all die Toten und Verwüstungen. Nach der großen Flut war im Ahrtal kaum noch was wie früher, und eine Hilfskampagne nahm ihren Lauf, die ihresgleichen sucht.

Zuerst rückten die Profis an – Feuerwehren, THW, Rotes Kreuz, Bundeswehr, … – mit schwerem Gerät und in wohlgeordneten Konvois aus allen Teilen Deutschlands. Ein paar Tage drauf die freiwilligen Helfer. Aber völlig ungeordnet, und überhaupt, was macht man mit tausenden Freiwilligen, wenn die Straßen im Ahrtal durch Treibgut, eingestürzte Brücken und den Unmengen Hausrat auf den Straßen – die Flut verursachte mehr Sperrmüll als sonst in 40 Jahren – kaum noch passierbar sind? Zwei Bad Neuenahrer Unternehmer haben eine geniale Idee, gründen das Helfer-Shuttle und geben so der Welle privater Hilfsbereitschaft eine Struktur. Der Name Helfer-Shuttle ist Programm. Gleich oberhalb des Ahrtals werden die grünen Wiesen um das neue Haribo-Werk zu einem großen Camp mit Parkplätzen für die vielen hundert Autos der freiwilligen Helfer und zur Umsteigestelle in die ebenfalls von Freiwilligen – ein jeder hilft halt gerne, wie er kann – gefahrenen Busse in das Ahrtal. Wobei grade in den ersten Tagen mit richtigen Bussen gefahren wird, sondern mit allem, was da ist. PKWs, Bullis, immer alle übervoll, und dann gerne noch ein paar Leute in einen offenen Anhänger hintendran. Von der Polizei, die ansonsten ja gut zwischen Erlaubtem und nicht Erlaubtem unterscheiden kann, werden die überladenen Gespanne übrigens fleißig durchgewunken. Sind halt doch Freunde und Helfer.

Und das Helfer-Shuttle fährt die vielen Freiwilligen nicht nur ins Tal, es sammelt und vermittelt auch die Aufträge und versorgt die Helfer mit Gerätschaften. Schaufeln, Eimer, Stemmeisen, Stemmhämmer, Verlängerungskabel, Stromaggregate, … – alles da im Baummarktzelt des Helfercamps.

Unten im Tal gibt’s überall zu tun. In den ersten paar Wochen muss jede Menge Sperrmüll aus überschwemmten Kellern, Erdgeschossen und zum Teil auch Obergeschossen auf die Straßen geschleppt und Schlamm weggeschippt werden. Ist alles einigermaßen leer und sauber, heißt es Putz und Estrich abzustemmen, dass feuchte Böden und Wände anständig trocknen. Und wer lieber an der frischen Luft arbeitet: In den Weinbergen wird Hilfe bei der Vorbereitung und Durchführung der Lese benötigt, und in den Weingütern im Tal schließlich warten regaleweise überflutete und verschlammte Weinflaschen, der so genannte Flutwein, darauf gesäubert zu werden.

Halb neun Uhr morgens ist eine gute Zeit, um am Helfercamp anzukommen. Ab 9 Uhr fahren die ersten Busse ins Tal, also schnell noch einen Kaffee mit den Ahrtal-Freunden vom letzten Mal trinken und einen Auftrag ergattern, den man gerne macht. Michael zum Beispiel stemmt am liebsten Putz von den Wänden. Bei Abbrucharbeiten kann man nichts versehentlich kaputt machen, es soll ja eh alles raus, und von seinem Ahrtal-Freund Wolfgang hat er einen sehr motivierenden Tipp bekommen. „Kauf dir selbst einen guten Stemmhammer, brauchen kann man den immer, und haben willst du ihn sowieso“, hatte Wolfgang ihm geraten, und genau so hat es Michael gemacht. Vorher holt er aber schnell noch Mechthilds Okay ein. „Du, ich glaube ich sollte mir langsam mal einen Stemmhammer zulegen. Aus Mitmenschlichkeit, um den Leuten im Ahrtal zu helfen“, sagt Michael seiner Mechthild, weil er bei Sachen, die ihm wirklich wichtig sind, immer irgendein übergeordnetes Interesse anführt. Worauf Mechthild leicht seufzend „Wenn es dich glücklich macht“ antwortet, weil sie immer so antwortet, wenn sie meint, dass ihr Mann sich mal selbstständig zu einer Kaufentscheidung durchringen sollte. Und tatsächlich, ein neuer Stemmhammer macht glücklich. Eine Makita ist es geworden, 780 W Leistung und 2,4 Joule Schlagenergie, da fliegt der Putz nur so von den Wänden, und bis zu 24 mm große Löcher in Beton könnte sie auch bohren. Wenn man’s denn bräuchte, aber das hat sich Michael noch nicht so genau überlegt. Haben ist erstmal wichtiger als brauchen.

Die wichtigsten Leute im Helfercamp, vor allem um kurz vor neun, sind die sogenannten Scouts. Auffallende orangerote Warnwesten tragen sie, und sie verteilen die Aufträge. Am besten, man findet sich des Morgens in einem Grüppchen zusammen – oft hat man sich ohnehin mit seinen Ahrtal-Freunden vom letzten Mal verabredet, sonst spricht man halt andere fragend dreinblickende Leute an – und wendet sich dann an einen der Scouts. Wenn man dabei seine Makita liebevoll in den Armen trägt, so jedenfalls Michaels Erfahrung, kann kaum was schiefgehen und die Scouts suchen aus ihrem Sammelsurium an Auftragszetteln den gewünschten Stemmauftrag heraus. Dann geht’s im Shuttle-Bus ins Tal, wo die Arbeit und viele neue Bekanntschaften warten. Bekanntschaften mit Leuten, die zum Teil von richtig weit weg hergekommen sind. Michaels Ahrtal-Freunde beispielsweise kommen aus Passau, Ingelheim, Bad Homburg, Stralsund, Saarbrücken, Pinneberg, Hannover, Sechtem, Kiel und Dresden.

Zu Mittag gibt’s warmes Essen – das Rote Kreuz kocht – und meist kann man sich zwischendrin auch kurz mal von der Arbeit absetzen um sich die Verwüstungen und Aufräumarbeiten anzusehen. Nach ein paar Stunden Arbeit ist man immer ganz gut eingesaut, da nimmt einem das niemand als Voyeurismus übel. Also schnell mal für ein Viertelstündchen abseilen, um in Rech die zu Lebensmittelladen und Notpostamt umfunktionierte St. Luzia Kirche anzusehen oder auf der von der Bundeswehr erbauten Pontonbrücke schnell einmal über die Ahr und zurück zu gehen, um in Walporzheim dem Schmied beim Werkzeug reparieren über die Schulter zu gucken oder um die von der Flut zerstörten Eisenbahnbrücken in Altenahr abzulichten.

Wenn man dann abends wieder ins Helfer-Camp zurückkommt, ist essen, trinken und erzählen angesagt. Wichtig davon ist alles. Dass man aus dem Tal anständig Hunger und Durst mitbringt ist ja klar, und die Erlebnisse der Anderen sind auch immer recht kurzweilig. Außerdem, so sagt man, hilft gegenseitiges erzählen beim Verarbeiten des Erlebten. Wobei das Verarbeiten des Erlebten einfacher geht, als man denken mag. Es sind nämlich nicht nur Bilder der Zerstörung, die man miterlebt, sondern auch viele sehr rührende Begebenheiten.

Da sind zum Beispiel die vielen anderen Helfer, die man alle vorher nicht kannte, bei denen man sich aber zweier sympathischer Eigenschaften sicher sein kann: Dass ihnen die Schicksale im Ahrtal nahegehen, und dass sie sich bei der Arbeit gerne dreckig machen.

Oder die beiden Bullifahrer aus Lichtenfels in Oberfranken, die am ersten Adventssamstag mit ihrem Bulli voller Bier und Radler (Kulmbacher Mönchshof Brauerei, sehr lecker) und einem Anhänger voller Weihnachtsgeschenke einmal quer durchs Land gefahren sind, in Fuchshofen das Ahrtal erreichten und an der ersten Flutbaustelle nach dem Bürgermeister fragten, weil die vielen guten Dinge ja gerecht verteilt werden möchten. In Ermangelung eines Bürgermeisters – Fuchshofen ist halt doch ein kleines Dorf – luden sie schließlich beim Trainer der örtlichen C-Jugend zwei Kästen Bier ab (für ihn und seine Trainerkollegen) sowie 15 hübsch verpackte Geschenke (für seine Jungs) und machten sich auf in den Nachbarort. Vielleicht nimmt ihnen da ja ein Bürgermeister den Rest der Ladung ab.

Oder die jesidische Gemeinschaft Köln-Leverkusen, von denen viele erst vor ein paar Jahren als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind. Seit der Flut verabreden sie sich samstags regelmäßig zum Kochen und verpflegen das Helfercamp mit jesidischen Spezialitäten.

Oder der Eismann aus der Südpfalz, der im Oktober – der Tag, an dem auch der Bundespräsident überraschend das Helfer-Camp besuchte – mit seinem Eiswagen kam, einen Tag lang sein Eis unters Volk brachte, um abends um viel Eis ärmer und keinen Cent reicher wieder nach Hause zu fahren.

Oder Katharina, die vor der Flut noch keinen Tom kannte und jetzt mit ihm gemeinsam ins Tal zieht. „Schon auch süß“, denkt sich Michael, wie die zwei vor ihm hergehen, dabei in einer Hand jeweils einen Stemmhammer tragen – Katharina Michaels Makita, Tom seine Bosch-blau – und sich die freie Hand geben. Da muss Michael heute wohl ohne sein schönes neues Werkzeug auskommen.

So gibt’s des Abends im Helfer-Camp immer viel zu erzählen. Und irgendwie fühlt es sich danach komisch an, ausgerechnet aus einem Katastrophengebiet inspiriert zurück nach Hause zu fahren. Ist schwierig zu erklären. Darf aber wohl so sein, wenn im Ahrtal noch immer viel passiert.

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